Zahl und Wirklichkeit
Wilholt T (2004)
Paderborn: Mentis.
Monographie
| Veröffentlicht | Deutsch
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Autor*in
Abstract / Bemerkung
Mathematik wird täglich mit Erfolg angewendet – ob wir nun eine Adresse in New York suchen, mit Bargeld bezahlen oder Produkte und Summen von am Maßband abgelesenen Zahlen bilden, um herauszufinden, ob der für 40 m² ausgelegte Eimer Farbe zum Streichen des Zimmers ausreicht oder nicht. In den Naturwissenschaften geht der Anwendungserfolg der Mathematik sogar noch weiter: Ausgefeilteste mathematische Strukturen können ausgenutzt werden, um Phänomene zu beschreiben – zum Teil mit erstaunlicher Genauigkeit.
Dabei sind die Gegenstände, um die es bei der Mathematik geht, wie Zahlen, Mengen oder Funktionen, völlig abstrakt. Sie scheinen keine kausalen Rollen im Geschehen der Erfahrungswirklichkeit zu spielen. Außerdem ist unser Wissen über sie von jedweder Erfahrung unabhängig; so will es jedenfalls eine weit verbreitete Sichtweise der Mathematik. Wie kann es dann sein, dass unsere von der Erfahrung gänzlich unabhängigen Erkenntnisse über von der Erfahrungswelt kausal abgekoppelte Gegenstände so außerordentlich nützlich bei der Beschreibung und Erklärung von Phänomenen in eben dieser Erfahrungswirklichkeit sind? Kurz: Warum ist diese merkwürdige Wissenschaft anwendbar?
Dies ist das Anwendungsproblem, mit dem sich Zahl und Wirklichkeit beschäftigt. Die Philosophie hat sich schon seit Platons Tagen immer wieder von der Faszination des mathematischen Wissens mit all seinen Besonderheiten in ihren Bann ziehen lassen. Auch das Anwendungsproblem hat dabei immer wieder Aufmerksamkeit erfahren. In der Wissenschaftstheorie und Philosophie der Mathematik des 20. Jahrhunderts standen aber andere Probleme im Vordergrund, so dass es gilt, das Anwendungsproblem für die Philosophie der Gegenwart wieder zu entdecken.
Hier fehlt es nicht an philosophischen Ansätzen, die in Aussicht stellen, für das Anwendungsproblem praktisch ganz beiläufig eine bequeme Antwort zu haben. Zum Beispiel existieren dem modernen Nominalismus zufolge mathematische Gegenstände genauso wenig wie Einhörner. Sie sind bloß Fiktionen, die wir zu bestimmten Zwecken ersonnen haben und nach unserem Gutdünken verwenden können. Das mathematische Wissen ist demnach kein Wissen über von der Erfahrungswirklichkeit unabhängige abstrakte Entitäten, sondern bloß über unsere selbst erfundenen mathematischen Geschichten, bei denen es bloß darauf ankommt, dass sie in sich konsistent sind sich "konservativ" (also wahrheitserhaltend) zu unserem Erfahrungswissen hinzufügen lassen. Diese Sichtweise ist auf den ersten Blick verlockend. Doch sogar unabhängig von all ihren theoretischen und technischen Schwierigkeiten wird die Plausibilität der nominalistischen Auffassung schon von ganz nahe liegenden Intuitionen ins Wanken gebracht, wie das folgende Beispiel zeigt. Bisher kennen wir keine gerade Zahl, die größer wäre als 2 und sich nicht als Summe zweier Primzahlen darstellen ließe. Dass es keine einzige solche Zahl gibt, ist die so genannte Goldbachsche Vermutung, die jedoch bis heute unbewiesen ist. Es könnte nach unserem besten Wissen durchaus sein, dass weder die Goldbachsche Vermutung noch ihre Negation aus den Axiomen der Arithmetik, also aus der von uns ersonnenen mathematischen Fiktion folgt. Doch selbst unter der Voraussetzung, dass dies so wäre, teilen die meisten Menschen die folgende Intuition: Entweder es gibt eine bisher unentdeckte gerade Zahl, die nicht die Summe zweier Primzahlen ist, oder es gibt sie nicht – wir können uns die Antwort nicht einfach ausdenken. Der Nominalismus kann diese Intuition, die darauf hinweist, dass die Mathematik eben doch keine unserem Gutdünken unterworfene Erfindung ist, nicht hinwegerklären.
Die Wissenschaftstheorie hat sich überwiegend auf eine ganz andere Sichtweise festgelegt, der zufolge die mathematischen Gegenstände durchaus eine eigenständige Realität besitzen. Aber die mathematischen Strukturen haben von sich aus nichts mit den Strukturen der Erfahrungswelt zu tun – wir benutzen sie nur, um Eigenschaften und Relationen der erfahrbaren Wirklichkeit zu repräsentieren. Durch unsere Messpraktiken und Konventionen erzeugen wir demnach Eins-zu-eins-Zuordnungen zwischen physischen und mathematischen Gegenständen; und dieses Repräsentationsverhältnis ist das ganze Geheimnis hinter der Anwendbarkeit der Mathematik. Doch auch hier tun sich bei genauerem Hinsehen Rätsel auf. Woher wissen wir überhaupt zuerst einmal irgend etwas über die mathematischen Strukturen, wenn sie an sich nichts mit der Erfahrungswirklichkeit zu tun haben? Schließlich sind wir konkrete Wesen, die ihre Informationen durch kausale Interaktionen mit ihrer Umwelt sammeln. Wie sind wir zu so reichhaltigen Informationen über die kausal inaktiven mathematischen Entitäten gekommen, dass wir sie als praktische Repräsentationsinstrumente benutzen können? Und weiter: Ist es wirklich überzeugend, dass das Verhältnis zwischen einer 3 kg schweren und einer 4 kg schweren Masse an sich nichts mit dem Verhältnis zwischen den Zahlen 3 und 4 zu tun hat, sondern nur vermöge unserer Konventionen durch den Bruch ¾ repräsentiert wird? Gibt es nicht eine engere, zwingende Verbindung zwischen Zahl und Wirklichkeit?
Eine der Thesen von Zahl und Wirklichkeit ist, dass es eine solche enge Verbindung im Falle reeller Zahlen (wie auch für manche anderen mathematischen Gegenstände) tatsächlich gibt. Sie sind zwar abstrakt, aber sie gehören zu einer besonderen Art abstrakter Gegenstände, den Universalien. Darunter versteht man allgemein abstrakte Gegenstände, die konkrete Instanzen oder Realisierungen besitzen können. Wie bei anderen Universalien, wie z.B. Formen, erklärt dies auch, wie wir überhaupt erst zu Wissen über sie gelangen konnten – nämlich über unseren Umgang mit ihren konkreten Instanzen.
Zwar ist nicht jede Anwendung der Mathematik ein solcher Fall, bei der der mathematische Gegenstand zu seinem physischen Gegenpart im Verhältnis einer Universalie zu ihrer Realisierung steht. (Die Verwendung von Mathematik als bloßes Repräsentationselement ist ohne Zweifel möglich und kommt auch oft vor.) Aber für eine ganze Reihe auch von naturwissenschaftlichen Anwendungen lässt sich vieles zugunsten der Behauptung vorbringen, dass bei ihnen genau dieses enge Verhältnis vorliegt. Für die am weitesten angewandten mathematischen Disziplinen wie z.B. die reelle Analysis bedeutet dies, dass die Universalien, um die es bei ihnen jeweils geht, quer durch die diversesten Phänomene bei vielen verschiedenen natürlichen Regelmäßigkeiten der Erfahrungswelt eine Rolle spielen – ob es nun um Farbeimer und Wandflächen geht oder um Energie-Impuls-Vektoren.
Erscheinungsjahr
2004
ISBN
3-89785-368-X
Page URI
https://pub.uni-bielefeld.de/record/2555258
Zitieren
Wilholt T. Zahl und Wirklichkeit. Paderborn: Mentis; 2004.
Wilholt, T. (2004). Zahl und Wirklichkeit. Paderborn: Mentis.
Wilholt, Torsten. 2004. Zahl und Wirklichkeit. Paderborn: Mentis.
Wilholt, T. (2004). Zahl und Wirklichkeit. Paderborn: Mentis.
Wilholt, T., 2004. Zahl und Wirklichkeit, Paderborn: Mentis.
T. Wilholt, Zahl und Wirklichkeit, Paderborn: Mentis, 2004.
Wilholt, T.: Zahl und Wirklichkeit. Mentis, Paderborn (2004).
Wilholt, Torsten. Zahl und Wirklichkeit. Paderborn: Mentis, 2004.